Page 1 / 1

So als würden sie im Wind zerbröckeln, schienen die alten Steine der Ruine im wechselhaften, orangen Licht des Sonnenuntergangs zu reißen und ihre Form zu ändern. Dunkle, zerstörerische Wolken zogen über den zerfallenen Mauern und freistehenden Torbögen zusammen. Sie hatten in diesem Zustand bereits viele Jahre überdauert. Sollten sie den Sturm überstehen, würde es noch etliche weitere dauern, bis der letzte Stein unter Gras begraben wäre.

Der kahle Umriss war die einzige Zuflucht, die die Schar von Gargoyles in der weiten, hügeligen Ebene ausmachen konnten. Als das erste Grollen durch das im Wind rauschende Gras der Ebene donnerte, umklammerten sie ihre Besitztümer und rannten zu dem alten Bauwerk, dessen Säulenreihen sich im Gegenlicht des orangen Horizonts verdunkelten.

Ungeduldig brachen sie durch die knarzende Tür des alten Gemäuers und schüttelten die Tropfen von ihrer Schieferhaut. Während die Schatten länger wurden, machten sich einige auf, die Tiefen der Ruine zu erkunden und Andere entfachten summend ein Feuer für das Abendmahl. Ein greller, schauderhafter Blitz lies sie zusammenrücken. Beim Dröhnen des Donners, das so laut war, als könne es Stein zum bersten bringen, kauerten sie sich zusammen.

Einer der älteren Gargoyles hob sein Haupt und lächelte bei dem Anblick der Jüngeren die sich zusammendrängten, als der Donner die Luft um sie erbeben ließ. So als zeichneten sie eine Karte der umliegenden Landschaft, erschienen unzählige winzige Risse auf seinem Gesicht. „Nun beruhigt euch, sonst wird die abendliche Geschichte nie erzählt.“

Mit Tröpfchen die ihre Gesichter wie glitzernde Juwelen hinabliefen, sahen sich die Jüngeren gegenseitig im flackernden Feuerschein an. Einer nach dem Anderen holten sie Instrumente unter ihren Roben hervor und begannen einen warmen Rhythmus zu spielen, der die Stille des prasselnden Regens, der auf das ramponierte Dach fiel, durchdrang.

Der betagte Gargoyle räusperte sich. „Ich singe es nun, unterm Wolkendach… ich singe das Lied der Wächter, während des Donners Krach…. ich singe von jenen die mal waren, ein Lied der Suchenden, der Wanderer auf Abwegen, ich singe von denen die vor uns kamen.“

Auf einer weiten, von großen Schluchten durchzogenen Ebene, waren einige Siedlungen entstanden, die von Ackerbau und Viehzucht lebten. Einer ihrer bedeutendsten Rohstoffe war der reichhaltige Stein, mit dem sich gut bauen und meißeln ließ und den man vielerorts finden und abbauen konnte. Diese Menschen waren für ihre prachtvollen Gebäude bekannt, große Bauten mit spitzen Türmen, die sie dem Ruhm ihrer Götter weihten.

Eine ihrer Kathedralen, gewaltiger als alle anderen, erhob sich über die Dächer der größten Siedlung. Mehrstufige Türme verziert mit steinernem Geschnörkel wirkten wie eine eindrucksvolle Geste gen Himmel. Die Fensterreihen der Vorderseite wirkten mit ihrem Kranzgesims, das feinen Stickereien ähnelte, wie ein Willkommensgruß.

In dieser Siedlung wurde ein Kind namens Goji geboren. An Gojis fünften Geburtstag beschenkte seine Mutter ihn mit einer winzigen Laute. Goji wusste das Ding zu schätzen und zerbrach es, entgegen der mürrischen Vorhersage seines Vaters, nicht. Mit seinen unbeholfenen Fingern zupfte er die Saiten und war gleich fasziniert. Als seine Mutter vom Markt zurückkehrte, war sie erstaunt ihn vom Küchenfenster aus klirrend das Wiegenlied spielen zu hören, mit dem sie ihn nachts immer in den Schlaf gesungen hatte. Goji war auf den Tisch geklettert und saß mit einem Stirnrunzeln auf seinem winzigen Gesicht über den Noten. Wegen des Regens schloss sie das Fenster und hob ihn dann hoch um ihn liebevoll zu drücken.

Goji wurde wie besessen vom Lautespiel. Im Schatten dieser großen Kathedrale, gerade so unter dem Sims der am Rand des Daches entlangführte, probte Goji seine Musik. Wann immer er nirgendwo anders gebraucht wurde, fand man ihn tagein, tagaus hier, wie er den widerhallenden Mauern etwas vorsang.

Goji wuchs zu einem großen, sehr stattlichen Jungen mit langen braunen Locken heran, der über eine Honigstimme verfügte, die selbst die kältesten Herzen zu schmelzen vermochte. Er war sehr auf Wohlklang bedacht, denn bereits als kleines Kind hatte er Tag und Nacht geübt um so viele Instrumente und Lieder zu meistern wie möglich.

Seine Eltern waren vernarrt in Goji und versorgten ihn mit allem Material und allen Instrumenten die er brauchen konnte. Sie engagierten die besten Musiklehrer weit und breit und Gojis Fähigkeiten steigerten sich im gleichen Maße wie seine Liebe zur Harmonie. Er spürte Musik in seinen Knochen und liebte es besser und besser zu werden.

Einige junge, aufstrebende Musiker schlossen sich Goji während der langen Stunden des Probens im Schatten der Kathedrale an und bildeten eine Gruppe eifriger, junger Minnesänger. Obgleich sie Kinder waren, lernten sie Gojis musikalischen Eifer zu schätzen und liebten ihn für seine Hingabe zu Rhythmus und Klang.

Da so viele mit ihm proben wollten, konnte Goji aus den Besten und Engagiertesten wählen und wie sein Talent und sein Ruhm, so wuchs auch sein Stolz. Er fing an zu glauben er sei etwas besonderes, zu Größerem bestimmt als jene, die seinen musikalischen Fähigkeiten unterlegen waren. Musik und Liedkunst wurde wichtiger für ihn und seinen Kader als alles andere auf der Welt. Sie gründeten eine eigene Gruppe, verweigerten sich den Spielen der anderen Kinder und schlossen sie aus. Hartherzig gegenüber ihrem Flehen, ließen Goji und seine ausgewählten Gefährten niemand von den anderen in ihrer Nähe spielen oder auch nur sitzen, während sie weiter im Schatten der Kathedrale musizierten.

Schließlich erfanden sie gefühllose Witze in Reim- oder Liedform, die sie skandierten sobald sich ein gruppenfremdes Kind näherte. Es funktionierte, denn alsbald die Limericks in der Siedlung Schule machten, hielten es die Anderen für besser, sich fern zu halten und den schmerzlichen Spötteleien, die sich die jungen Musiker ausgedacht hatten, zu entgehen. Der Wunsch Gojis und seiner Kameraden erfüllte sich: Sie konnten ungestört proben und wie die Wunderkinder, die sie waren, ihre musikalischen Fähigkeiten ausbauen.

Es war Gojis vierzehntes Jahr als die Stürme zum ersten Mal kamen. Damals wurde der Veil durchstoßen und der Erste Weltenbruch kam über die Erde. Es regnete Feuer vom Himmel und der Erdboden wurde bis auf die Knochen versengt. Das Land der Schluchten barst und zerbrach als die Umwälzungen es auseinanderrissen. Viele Siedlungen verschwanden vollständig, verschlungen vom gequälten Erdreich.

Die jungen Musiker in der größten Siedlung weigerten sich das Ende der Welt zu akzeptieren und spielten weiter ihre Musik. Ihre Landsleute versuchten sie von dort wegzuziehen, doch Goji wehrte ab. „Nichts bringt mich dazu diesen Ort zu verlassen!“ rief er hochmütig in seiner melodischen Stimme, „Ich habe mein ganzes Leben hier Musik gespielt. Dies ist nicht von Dauer, doch meine Musik wird weiterleben.“

Von seinen Worten beflügelt, blieben auch seine Freunde, selbst als die ersten schrecklichen Veilstürme über sie hereinbrachen.

Mit den Anderen stet an seiner Seite, suchte Goji halt am Stein des Kathedralengemäuers. Der Sturm wütete rings um sie herum, Magie die mit Wind und Regen riss und peitschte. Etwas war anders an diesem Sturm, etwas das ihn schlimmer machte als die vorhergegangenen Veilstürme. Er besaß eine grausame Intelligenz, etwas das einen tiefen Groll gegenüber unserer Welt hegte.

Es war ihnen damals nicht bewusst, doch dieser magische Sturm, der sich durch eine ungeheuren Druck in der Luft auszeichnete, sollte später als „Malvolenz“ bekannt werden. Es war eine der Ersten, oder vielleicht sogar die Erste, die diese glücklose Welt heimsuchen sollte. Die meisten der Dorfbewohner, die nicht geflohen waren, erlagen ihrer rohen Gewalt und wurden getötet oder wurden zu Abscheulichkeiten, die heulend in die aschfahle Nacht entschwanden.

Goji und seinen engsten Freunden sollte jedoch ein sonderbareres Schicksal beschert sein. Als sie sich von Regen und Magie mit einer widernatürlichen Gewalt gepeitscht an den Wänden der Kathedrale festkrallten, veränderte sich Etwas. Das Hämmern des Sturms begann die Steinmauern unter den Fingern der Kinder zu erweichen. Goji keuchte, die dichte Luft schmerzte in seinen Lungen als der Stein aus den Wänden hervorquoll und begann, wie Schlamm an seinen Händen und Armen hinabzurinnen. Er versuchte sich loszureißen, doch der Wind und das Gewicht der anderen drückten ihn nur noch tiefer hinein. Die Jünglinge schrien auf als sie spürten, wie der brodelnde Stein sie umhüllte und in Formen zwang, die sie nicht begreifen konnten.

Die jungen Musiker wurden vom flüssigen Stein umhüllt, ihre angsterfüllten Schreie wurden vom fließenden Stein abgedämpft, der über ihre Münder lief. Ein entsetzliches Gewicht erdrückte Goji von allen Seiten und überzog ihn mit einer neuen Haut. Er wand sich in Schmerz und Furcht, aber es war längst zu spät. Der Stein umschlang ihn als wäre es sein einziger Zweck und verschmolz mit seinem Leib. Die Magie formte eine eine neue Haut und verursachte ihm unerträgliche Schmerzen. Als der Wind und der Regen auf die umhüllten Kinder niederprasselte, verdichtete sich der Stein und erhärtete zum neuen Antlitz ihres Wandels.

Keiner von ihnen war noch er selbst. Kaum glichen sie noch Menschen. Hörner, weite Augen, klaffende Mäuler, spitze Flügel und viele weitere Seltsamkeiten hatte der Sturm an ihnen verändert. Sie waren schweigsame, steinerne Scheußlichkeiten geworden, verzerrte, skurrile Verhöhnungen ihres einstigen Selbst. Irgendwie schien es, als wäre ihre Erscheinung sorgfältig durchdacht, als würde jedes Merkmal wie die Zeichnung eines wahnsinnigen Malers enthüllen, was sich in ihrem Innern verändert hatte. Die Kinder starrten sich aus ihren steineren Gefängnissen an, mit denen sie verschmolzen waren und hätten geschrien wenn sie sich nur hätten bewegen können.

Im Laufe der Nacht nahm die furchterregene Kraft des Sturms ab und als die Sonne aufging, stieg der Dampf zwischen den Überresten der zerstörten Häuser und den Leichen, die in einer unendlichen Flut aus Magie und Regenwasser hinfortgespült wurden, empor. Die Bewohner versuchten sich zu versammeln. Ein großer Teil ihres Dorfes war zerstört oder weggeschwemmt worden. Beinahe die Hälfte der Einwohner waren tot oder schlimmer noch, wurden zu ebenjenen Abscheulichkeiten, die unter Geheul und Geschrei davongestoben waren.

Unter den Toten befanden sich auch Gojis Eltern, die vom herabgestürzten Gebälk ihres zerstörten Heims erschlagen aufgefunden wurden. Von Goji und den Anderen fehlte zunächste jede Spur bis schließlich eine alte Frau die in Stein geformten, verzerrten Gestalten neben der Kathedrale entdeckte.

Obwohl sie bis zu diesem Zeitpunkt all die Schrecken stoisch über sich ergehen ließ, brach sie schlussendlich in Tränen aus, als sie die Andern auf die Züge der verwandelten Kinder hinwies. Die gespenstischen und bewegungslosen Statuen rissen ihre Mäuler zu stummen, schmerzerfüllten Schreien auf und schienen lediglich die Dorfbewohner und ihrer Zerbrechlichkeit im Angesicht des Sturmes zu verspotten. Niemand wusste was zu tun sei, keinem war eine Form der Magie bekannt, die die verlorenen Kinder zurückbringen konnte, obwohl sie der Verlust doch brennend schmerzte. Als schließlich mit dem mühevollen Wiederaufbau des Dorfes begonnen wurde, schleppten ein paar Arbeiter die Statuen ins innere der Kathedrale wo sie fortan verweilten.

Die Jahre vergingen, wurden zu Jahrzehnten und schließlich zu Jahrhunderten. Die Welt nahm ihren Lauf, die Stürme wüteten weiter und mit der Zeit vergaß man den Ursprung der Statuen. Die Kathedrale blieb bestehen, obwohl sie im Verlauf der Jahre immer heruntergekommener aussah und Risse die wettergeprägten Steine und Balken übersäten.

Unter den Überlebenden der anderen verstreuten Siedlungen befand sich Romain, ein Junge der erwachsen wurde und in die größte Siedlung kam. Er war ein gütiger Mensch, ein guter Anführer mit einer endlosen Geduld beim Wiederaufbau der Siedlung nach jeder erneuten Zerstörung durch einen Sturm. Als die Arbeitertrupps schließlich Gelegenheit hatten die Kathedrale zu reparieren, ließ Romain die uralten Statuen als Wächter der Halle auf dem Dach platzieren. Er richtete eine Schule in ihr ein und lehrte den hiesigen Kindern das Wissen, das vom Weltenbruch bedroht worden war.

Der Kinderchor kam jede Woche um zu proben und ihre Stimmen hallten durch das Gewölbe das sich wie ein steinerner Wald gen Himmel hob. Hoch oben über dem Tor standen die bewegungslosen Statuen und lauschten still.

Nach dem Durchstoß herrschte noch immer viel Unruhe auf der Welt. Weitere Stürme fegten über das Land und oft wurden die Kinder eiligst nach Hause geschickt bevor sie ein Unheil überkommen konnte. Regen und Wind wuschen über die Statuen und sie gurgelten und pfiffen als der Sturm durch ihre aufgerissenen Mäuler fuhr.

Romain, der oft bis spät in die Nacht in der Kathedrale Unterschlupf suchte, vernahm ihre Laute und taufte sie schließlich “Gurgler”. Die Kinder, die von der eindrucksvollen aber doch heiteren Erscheinung der Statuen begeistert waren, übernahmen die Bezeichnung und als sie über die Jahre erwachsen wurden und andere Kinder die Tradition übernahmen, wurden daraus “Gargoyles”. Beim Rennen und Spielen stolpernd, sangen die Kinder Ausschnitte der Lieder die sie probten, genau wie Goji und seine Freunde es einst taten, nur sorgenfreier.

Selbst als diese Kinder aufwuchsen und die nächste Generation von Romain lernte, entwickelte und veränderte sich die Welt.

Die Steine buken in der sommerlichen Hitze, froren in den weißen Wintern und der Himmel drehte sich weiter über Goji, während er mit weiten Augen und aufgerissenem Maul beobachtete. In der Zeit aber nicht im Geiste erstarrt, lernte er.

Die Gargoyles, auf Ewig auf ihren Mauern niedergelassen, beobachteten. Sie beobachteten den Horizont, die Reisenden die zum Handeln kamen und gingen und die zerstörte Welt wieder aufbauten. Sie sahen zu wie die Kinder aufwuchsen und sich ihr eigenen Heim in der erneut anwachsenden Stadt bauten oder den Stürmen trotzten und selbst über den Horizont verschwanden. Die Gargoyles sahen zu wie sich die Schluchten, aufgrund der unaufhörlichen Nachwirkungen des Durchstoßes auf das Land, auffüllten oder weiter auseinander trieben. Sie beobachteten wie Romain seiner Siedlung zu Wachstum verhalf und weitere Bewohner die Stadt erfüllten. Goji folgte dem Verlauf ihrer Leben, während sich mehr und mehr Häuser, unter dem wachsamen Auge seiner Beschützer, um die Kathedrale herum ausbreiteten. Er begann die Ströme und Winde des Lebens zu verstehen als unter ihm zahllose Lieder ihren letzten Vers sangen und sich endlose Gedichte des täglichen Lebens in den Straßen der Stadt abspielten.

Von Kind zu Kind weitergegeben, erzählten sich Romains Schüler eine Geschichte die mit der Zeit zur Legende wurde. Sie glaubte, dass sich die Erscheinung der Gargoyles langsam veränderte. Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten wie veränderte Fingerstellungen oder ein etwas weiter geöffnetes Maul, doch dann verschoben sich Hörner oder Flügel oder verschwanden gänzlich. Sie wurden zu neuen Wesen. Goji fragte sich, ob es denn wahr sei, doch konnte er sich nicht umdrehen um nachzusehen. Er konnte nur dem lauschen was die Kinder über ihn erzählten.

Weiter geht es im zweiten Teil.

Page 1 / 1